Du weißt, dass du ein besonderes Kind hast, wenn...

... Dein sieben jähriger geistig beeinträchtigter Sohn besser steril arbeiten kann als viele ausgebildete Krankenschwestern in der Klinik. 

... Er dir dabei ganz selbstverständlich erzählt, dass er sein Essen heute selbst zubereitet. 


Nur eine Infusion

M. braucht aktuell wieder Eisen Infusionen. Er verliert ständig Blut über die Magen - Darmschleinhaut und wir können kein Eisen über die Nahrung zuführen. Die Blutwerte zeigen, dass er wieder einen bedeutenden Eisenmangel hat. Er ist noch blasser als sonst. Müde und extrem reizbar. Die Klinik empfiehlt nicht zu warten, sondern eine Eisen Therapie über die Venen sofort zu beginnen. Diesem Plan stimmen wir zu.

Da die Sorge vor einem anaphylaktischen Schock als Reaktion auf dieses Medikament hoch ist, muss diese Infusion samt Nachüberwachung tagesstationär in unserer behandelnden Klinik laufen.

Wir bekommen einen zeitnahen Termin. Dienstag 9.30 Uhr. Wunderbar. Die Nächte vorher und nachher sind durch den Pflegedienst abgedeckt, ebenso der Dienstag Vormittag. Sortiert und ausgeschlafen kann ich Junior zu den Terminen fahren. Die Pflegekraft fährt mit, versorgt ihn während der Fahrt und geht mit ihm in die Klinik, während ich mit dem Baby corona bedingt immernoch vor der Tür warten muss.

Plan steht.

Theoretisch.

Denn praktisch sagt sowohl der Nachtdienst für Montag als auch der für Dienstag Nacht ab. Unmöglich kann ich nach durchwachten Nächten diese lange, anstrengende Autofahrt leisten. Ich bitte den Pflegedienst um Ersatz. Leider gestaltet sich das schwierig und die einzige Pflegekraft die spontan einspringen würde, ist unser Tagdienst von Dienstag. Ich habe die Wahl- entweder macht sie die Nacht oder sie fährt mit zur Klinik. Ich überlege lange. Schiebe Optionen hin und her. Letztlich scheint es am sinnigsten, die Nacht an den Pflegedienst abzugeben und die Kliniktour alleine zu planen.

Ich frage in der Klinik nach einer Ausnahme Regelung, ob ich das Baby in der Trage vielleicht doch mitbringen könnte. Keine Chance. Es gibt Regeln und die gelten. Ausnahmen sind nicht möglich.

Ich kann meine Schwiegereltern zur Betreuung des Babys gewinnen. Sie werden mit dem Kinderwagen um die Klinik rum spazieren gehen. Wenn das Baby etwas braucht bin ich jeder Zeit präsent. Meine Schwiegereltern sind gesundheitlich angeschlagen. Für sie wird es nicht ganz einfach den Vormittag mit dem Baby spazieren zu gehen. Dennoch bin ich so dankbar, dass sie ihre Hilfe anbieten. Wird schon gut gehen rede ich mir ein.

Am Montag habe ich einen Termin bei unserer Kinderärztin. M. braucht einen offiziellen negativen corona Test. Nach mehreren Versuchen in offiziellen teststationen ist das keine Option für ihn. Er ist schwerst traumatisiert und ein Wattestäbchen in der Nase ist für ihn schlimmer als wir uns vorstellen können. Wenn er das Stäbchen sieht werden die Ängste geweckt. Er schreit und strampelt und wehrt sich mit vollem Körper Einsatz. Das Personal in den test Stationen ist auf diese Situation nicht eingestellt. Es gibt keine Zeit, kein geschultes Personal. Das Personal ist völlig überfordert. Ebenso wie mein Sohn. So testet ihn freundlicher Weise unsere liebe Kinderärztin. Sie strahlt Ruhe aus, geht auf Augenhöhe mit meinem Sohn. Körperlich und mental. Schön ist dieser Abstrich für ihn auch hier nicht. Er weint und ist völlig aufgelöst. Aber wir bekommen die benötigte Bescheinigung.

Die Kinderärztin überreicht meinem Sohn die Bescheinigung mit den Worten "das ist die Bescheinigung dass M. ein toller Junge ist. Es ist wichtig, dass das jeder weiß." Mein Sohn strahlt. Mir tut die Liebe, mit der unsere Ärztin meinem Sohn begegnet so gut. 

Die Nacht über versorgt die Pflegekraft meinen Sohn gut. Sie hängt Medikamente an seinen Venenkatheter an, lagert ihn, sorgt für einen guten Ablauf aus der Magrnsonde usw.

Dienstag früh um 5 Uhr klingelt mein Wecker. In 20 Minuten habe ich einen Termin in einem corona test Zentrum. Trotz vollständiger Impfung komme auch ich nur mit zusätzlichen negativen, tagesaktuellen Test in die Klinik. Wie dankbar bin ich, dass M. zuhause von der Pflegekraft betreut und für die Fahrt vorbereitet wird. Er bekommt prophylaktisch Medikamente gegen die Übelkeit. Die Verbände werden alle frisch gemacht und die parenterale Nahrung wird umgehängt. Dass sie da ist, verschafft mir  einen Moment zum Kaffee trinken und das sogar im Sitzen. Dann mache ich Pausenbrote und Frühstück für die großen, Stille das Baby und ziehe es an. Ich mache den großen Mädels Zöpfe, packe Medikamente, Katheter und vieles mehr für Junior ins Auto.

Um 6.30 Uhr fahre ich mit meinem Sohn und dem Baby los. Regulär brauchen wir eine gute Stunde. Um diese Uhrzeit rechne ich mit etwas mehr Zeit. Mit drei Stunden Fahrtzeit habe ich nicht gerechnet. Ein Stau nach dem nächsten. Genervt kommen wir viel zu spät an. Ich Stille noch das Baby und übergebe es an Oma und Opa. Es regnet und es ist sehr kalt. Ich muss die drei jetzt in der Kälte zurück lassen. In einen warmen, trockenen Innenraum dürfen sie nicht. Der Preis für diese Eiseninfusion ist hoch. Ich habe kein gutes Gefühl. Doch es bleibt mir nichts anderes übrig.

Zügig gehe ich mit meinem Sohn zur tagesstation. Wir werden schon erwartet. Die Infusion wird angeschlossen. Sein Blutdruck und die Sauerstoffsättigung wird dabei eng überwacht. Es geht ihm gut. Er verträgt dieses Medikament super. Auch die Nachüberwachung bleibt völlig unauffällig. Telefonisch bin ich immer wieder im Kontakt zu meinen Schwiegereltern. Es scheint alles zu klappen. Sehr erleichtert nehme ich mein fünf Monate alte Baby schließlich wieder in Empfang. Beide Kinder verschlafen die Fahrt nach Hause. Es läuft deutlich besser. Kein Stau.

Als ich um 15 Uhr zu Hause ankomme bin ich einfach nur noch müde! Ich helfe meinen Töchtern bei den Hausaufgaben, gehe mit der einen noch zur Krankengymnastig. Ich koche ein Abendessen, erledige die übliche Abend routine. Kaffee hält mich aufrecht. Was für ein Tag! Und das alles für diese eine Infusion! Diese wichtige Infusion. Langweilig wird es mir nicht. Heute haben wir es geschafft. Wir sind ein eingespieltes Team. Nächste Woche folgt die selbe Aktion Noch einmal. Dieses Mal mit Tag - und Nachtdiensten vorher und einer Pflegekraft die uns begleitet. Deutlich entspannter.

Zwischen bunten zuckerstreuseln und völliger Verzweiflung

Ihr wartet auf den Bericht über meinen freien Tag mit meinem Sohn. Es war so ein schöner Tag.

So wertvoll. Glücksmomente pur. Erinnerungen sammeln. Ein Tag wie ein Juwel.

Und doch ist er schon wieder verblasst. Überschattet. Weit weg.

Ein Morgen im März. Junior macht seine Augen auf und weiß dass heute kein Pflegedienst kommt. Er strahlt mich an und freut sich auf die Stunden, die die großen Mädels in der Schule sind und ich nur für ihn da bin. Ich frage, was wir machen wollen und rechne damit, dass er "spielen" oder "Bücher lesen" sagt. Er überlegt einen Moment und sagt dann fest entschlossen "Plätzchen backen". Ich staune nicht schlecht. Wie kommt er jetzt auf diese Idee? Plätzchen im Frühling? "ja Klar" sagt er "Frühlings Plätzchen". Okay, warum eigentlich nicht? Ich versorge ihn mit Medikamenten, kontrolliere alle Verbände, ich Katehterisiere und ziehe ihn an. Dann suche ich ein Rezept für Plätzchen zum ausstechen raus und bereite alle Zutaten vor. Ich hole Junior aus dem Bett. Er möchte natürlich helfen beim Teig machen. Er sitzt in seinem Therapiestuhl an der Küchenplatte und schüttet Mehl und Butter in die Schüssel.

Während der Teig im Kühlschrank etwas ruht hänge ich die Kurzinfusionen an seinen fest implantierten Venen Katheter.

Wir schauen zusammen die austecher Förmchen durch. Sterne und Tannenbäume sind nicht passend. Wir entscheiden uns für Herzen, Kreise und Blumen Formen. Sogar ein einhorn Förmchen und einen Igel finden wir. M. möchte den Teig alleine ausrollen. Ich lasse ihn. Schnell merkt er, dass seine Kraft nicht reicht. Ich helfe ihm.

Junior fängt an auszustechen und singt dabei fröhlich vor sich hin. Ganz konzentriert ist er an der Arbeit. Er macht es super. Ich staune über seine Ausdauer. Wir füllen ein Blech nach dem anderen. Schon bald duftet es herrlich nach frischen Plätzchen.

Das schönste kommt noch. Mit vielen bunten Streusel werden die kekse verziert. Ich streiche den süßen Zuckerguss auf die kekse und Junior verziert sie. Erst ganz ordentlich. Jeder zuckerstreusel wird einzeln platziert. Junior legt Muster und Gesichter. Aber nur einen Moment. Seine Hände ermüden leider schnell. Er geht dazu über die zuckerstreusel aus der Faust auf die kekse zu steuern. Auch das ist anstrengend für ihn. Letztlich schüttet er völlig unkoordiniert Berge von Streusel direkt aus der Verpackung auf das Backblech mit den Keksen. Mich schmerzt es, seine Schwäche zu beobachten. Wie unkoordiniert er arbeitet. Das konnte er schon so viel besser. M. Ist heute überhaupt nicht frustriert. Ganz im Gegenteil. Er hat richtig viel Spaß. Er lacht und singt und streut die bunten Streusel großflächig. Wie gut, dass es staubsauger gibt, und Waschmaschinen. Ich lasse ihn so arbeiten, wie er es kann. Wie es ihm Spaß macht.

Immer wieder lehnt er sich zurück. Schließt kurz die Augen und schöpft neue Kraft um weiter zu machen. Irgendwann schaut er mich unvermittelt an und sagt "geht nix mehr" er ist blass, erschöpft aber sehr glücklich. Ich trage ihn in sein Bett. Während ich ihn pflegerisch versorge schläft er schon ein. Den Rest des Tages verschläft er.

Die kommenden Tage hat er so einen große Freude am Kekse verteilen. Die Schwestern bekommen welche, die Pflegekräfte. Die Pflegerin, die ihm am nächsten ist bekommt das schönste Einhorn. Seine Klassenkameraden bekommen Kekse ebenso wie die Großeltern.

Er selbst probiert natürlich keinen Keks. Keinen Krümel. Kein zuckerstreusel. Kein Zuckerguss. Es macht ihm nichts aus. Er vermisst das Essen nicht.

Wir zehren noch eine weile von unserem schönen back Vormittag. Unbeschwerte, schöne Zeit. Das ist es, was wertvoll, ja unbezahlbar ist.

Leider holt der (Pflege) Alltag uns schnell ein.

Da ist der Termin in der Klinik. Wir sprechen über Ziele der aktuellen Therapie. Über den Verlauf dieser Krankheit. Den deutlichen Abwärtstrend und darüber, dass wir nicht genau wissen, wie lange unser lieber Sohn noch lebt. Der Arzt sagt, dass er nicht dachte, dass M. So alt werden kann. Schon sieben Jahre! So wie andere übers Wetter sprechen, so bespreche ich, dass wir keine maximal Therapie mehr wollen. Dass M. Das Tempo angibt und eines Tages zuhause sterben soll. Nicht in der Klinik. Ob dieser Tag kurz bevor steht oder M. noch eine Zeit lang bleibt, das weiß keiner. Prognosen wird keiner mehr äußern. Letztlich geht unser Sohn den Weg in seinem Tempo. Immer wieder bietet er Überraschungen. In beide Richtungen. Mal ist er unerwartet sehr schlecht, mal erholt er sich viel besser von einer Krise als erwartet. Es geht immer mal wieder ein kleines Stück bergauf und dann wieder ein großes Stück abwärts. Das Niveau "gut" wird er nicht mehr erreichen.

Und eines Tages wird er sterben. Als Kind. Eine völlig verdrehte Realität. Unsere Realität.

Wir können ihn so gut es geht begleiten. Medizinisch. Und mit ganz viel LIEBE.

Und mit Plätzchen backen und vielen bunten Zuckerstreusel.

Da sind immer wieder Schwierigkeiten mit dem Pflegedienst. Abgesagte Dienste. Schlampiges arbeiten. Zwischenmenschliche Herausforderungen. Manchmal wäre mein Sohn von mir selbst definitiv besser versorgt als von einzelnen professionellen Kräften.

Aber ich kann es nicht alleine schaffen. Bittere Erkenntnis.

Er braucht 24 Stunden intensiv medizinische Unterstützung. Das können wir auf Dauer nicht alleine leisten.

Es ist 4 Uhr. Ich bin immer noch wach. Heute habe ich ganz spontan Nachtdienst. Ich bin müde. Ich muss aufpassen, keine Fehler zu machen. Ich hänge ein Schmerzmittel an juniors Venen Katheter, arbeite dabei steril und konzentriert. In zwei Stunden wecke ich die großen und der Tag nimmt seinen Lauf. Tagsüber schlafen ist mit meinen vier Kindern nicht möglich.

Das geht schon irgendwie. Aber nicht auf Dauer. Nicht immer.

So muss ich den Ärger, die Enttäuschungen und manche ungute Situationen mit dem Pflegedienst einfach runter schlucken und weiter machen. Immer weiter.

Aktuell setze ich mich gleichzeitig mit dem Sterben meines Kindes auseinander und versuche nebenher zwischenmenschlichen Zwist mit den Menschen zu klären, die hier arbeiten. Die ihr Geld mit der Erkrankung meines Sohnes verdienen. Statt zu beraten, abzufedern, zu entlasten raubt diese Institutionen Pflegedienst mir meine letzten Kraft Reserven.

Ist das richtig? Weiter tragbar?

Selbst wenn die Antwort eindeutig nein lautet, haben wir doch keine Möglichkeit etwas zu ändern. Wir brauchen die Pflegekräfte.

Natürlich gibt es die motivierten, professionellen Pflegekräfte. Die, die M. sehr liebt. Die, die ich sehr Schätze. Mit denen alles ganz wunderbar rund läuft. Doch leider ist die Grundstimmung im Moment eine sehr anstrengende. 

Wir strukturieren und definieren neu, wir optimieren Abläufe und verbessern die Kommunikation. Wir tun was wir können um die Pflegedienst Situation zu verbessern. Wir hoffen, dass so für die nächste Phase unseres Weges wieder Ruhe rein kommt. Ruhe und Professionalität in der Versorgung unseres Sohnes. Ruhe in unser Zuhause.

Ja, da sind die Plätzchen Glücks Momente. Und da sind die Herausforderungen die unsere besondere Lebens Situation mit bringt. Leider gibt es kein Gleichgewicht. Die unbeschwerten Plätzchen Glücks Momente wurden selten. Die Herausforderungen mit denen wir uns auseinander setzen müssen immer schwerer.

Was kann ich tun um das Gleichgewicht wieder herzustellen?

Ich weiß es nicht. Aber ich entscheide mich bewusst dafür, die schönen leuchtenden Momente in meinem Herzen zu bewahren. Sie helfen mir, nicht hart zu werden oder verbittert.

Es ist Juniors Lebenszeit. Mit aller Kraft werde ich weiterhin versuchen es gut zu machen. Gut für ihn. Gut für uns alle. Ist es nicht meine Aufgabe jeden Tag einen zuckerstreuseln Moment zu schaffen? Ich gebe mein bestes. 


Das Leben mit dem Pflegedienst

Seit einundhalb Jahren werden wir von einem Kinder intensiv Pflegedienst bei der Pflege unseres Sohnes unterstützt. Über die Jahre wurde der Pflegebedarf immer höher. Mittlerweile sind wir quasi non stop an ihm dran. Alle drei Stunden katheterisieren, 12 mal Medikamentengabe per kurzinfusionen, parenterale Ernährung mischen, infusionsleitungen alle 24 Stunden komplett erneuern, den Magen und den Dünndarm stündlich abspülen, Wunden versorgen, steril arbeiten, Verbandswechsel... Die Pflege meines Sohnes ist ein 24/7 full-time job.

Gut dass wir die Möglichkeit haben Unterstützung zu bekommen. Gut, dass die Krankenkasse für die Kosten aufkommt. Gut dass wir einen sehr guten, kompetenten, zuverlässigen Pflegedienst gefunden haben.

Ein Team aus mehreren Kinder intensiv Fachkräften deckt nun Nachts Juniors Versorgung ab. Die Fachkraft kommt um 22 Uhr. Für sie steht ein Sofa in einem extra Zimmer bereit. Bis 8 Uhr morgens weiß ich M. In guten Händen gut versorgt. Unter der Woche kommt zusätzlich Vormittags noch jemand für fünf Stunden. Entweder wird M. in die Schule begleitet oder, wenn seine Kraft nicht reicht, wird er Zuhause in seinem Bett in seinem Zimmer versorgt. So kann ich Nachts schlafen und vormittags Dinge erledigen die in einem sechs Personen Haushalt zu tun sind.

Eine Entlastung!

Und gleichzeitig eine Herausforderung!

Wir haben immer jemand fremdes im Haus. Durch die vielen Stunden, die der Pflegedienst hier verbringt, bekommt das Personal unsern unverblümten Alltag mit.

Wenn ich Abends nur noch müde bin, gestresst oder gefrustet vom Tag, begegne ich noch dem Pflegepersonal. Ich mache eine Übergabe und oft noch einige Handgriffe im Haushalt.

Wenn wir einen super Tag hatten und der Tag eigentlich niemals enden sollte, steht um 22 Uhr der Pflegedienst vor der Tür. Unser Tag ist nun vorbei.

Morgens vor dem ersten Kaffee begegnen wir dem Pflegedienst.

Der Pflegedienst ist da, wenn wir Geburtstag feiern oder Weihnachten.

Es ist jemand da, wenn ich mit den Kindern lache und auch wenn mir die Geduld fehlt.

Es ist jemand da, wenn mir das Mittagessen misslingt, es ist jemand da wenn meine Tochter mir fröhlich von ihrem Schultag erzählt. Wenn ich mit den Kinder Medien Zeiten diskutiere und auch wenn die Klinik anruft um mir schlechte Blutwerte mitzuteilen.

Als ich vor einem Jahr einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand hielt und vor Glück und überwältigung geweint habe wie ein kleines Kind war eine fremde Person von Pflegedienst da (sie weiß bis heute nicht, warum ich damals so aufgelöst war :)) als ich einen Blasensprung hatte war das Pflegepersonal die erste Person die davon erfuhr. Als ich mit meinem sechs Stunden alten Baby nach Hause kam wurden wir vom Pflegedienst begrüßt.

Einige vom Pflegedienst kennen mein vier Monate altes Baby besser als meine Freunde, sogar besser als die Verwandtschaft.

Das Pflegepersonal teilt unsere Glücksmomente und die tiefsten Verzweiflungen.

Seit der Pflegedienst hier ein und ausgeht, geht es mir so viel besser. Ich habe wieder Zeit und Kraft für meine gesunden Kinder, Zeit für mich und ich habe meinen Haushalt meistens auf dem laufenden. Es eröffnet mir neue Möglichkeiten wieder am Leben teilzunehmen.

Dennoch führen wir ein sehr gläsernes Leben. Geben viel Privatsphäre auf. Denn es ist eigentlich immer jemand da.

Es ist eine sehr einseitige Abhängigkeit. Wir sind dringend angewiesen auf die Unterstützung, weil wir ein schwerst krankes Kind haben. Ein lebensverkürzt erkranktes Kind. Ein Zustand den wir uns nie gewünscht haben, der aber unsere Realität wurde. Natürlich verdient der Pflegedienst ganz gut mit uns. Wir sind sozusagen großkunden. Einige der Pflege kräfte verdienen ihr Lebensunterhalt hier bei uns. Für andere sind wir ein Nebenjob, der die Haushaltskasse ganz gut aufstockt.

Doch die Warteliste ist lang genug. Schnell wären wir ersetzt, die Pflegekräfte bei anderen Familien beschäftigt. Der Pflegedienst ist nicht von uns abhängig, dafür gibt es zu viele pflegebedürftige, zu wenig Pflegepersonal. Diese einseitige völlige Abhängigkeit ist für mich oft schwer auszuhalten. Es ist ein Ungleichgewicht. Lässt mir kaum Chancen, Forderungen zu formulieren.

Wir haben ein relativ großes Team und ich würde sagen von allem etwas dabei. Von der schüchternen introvertierten Pflegekraft bis zu der stets fröhlichen die immer etwas zu erzählen hat. Von mega empatisch bis zu eher distanziert. Wir haben die, die ihren Job aus Leidenschaft und mit ganzem Herzen machen und die, die wegen guten Arbeitsbedingungen und einem guten Lohn da sind.

Viele verschiedene Menschen, jeder mit seinen Eigenheiten, gehen hier täglich durch mein Zuhause. Ich liebe diese Vielfalt. Ich mag sie alle. Ich mag Menschen, ich höre gerne ihre Geschichten. Lass mich inspirieren und herausfordern.

Doch manchmal spüre ich den Wunsch in mir, die Türen zu zu lassen, mein Zuhause für mich zu haben. Manchmal wünsche ich mir, nicht immerzu Ansprechpartnerin zu sein. Mich nicht mit Pflegedienst Themen auseinander zu setzen. Ich wünsche mir, den Tag einfach so zu gestalten wie ich es möchte. Ohne zu diskutieren, argumentieren ohne mich zu erklären oder zu rechtfertigen. Ich wünsche mir Zeit mit meinem Sohn, ohne dass eine Pflegekraft daneben steht.

Ich wünsche mir ein normales Familien Leben.

Normal.

Wer definiert das? Was ist normal? Wer ist normal?

Wir schon lange nicht mehr.

Unsere Situation ist eine besondere. Sie fordert besonderes von mir. Die Türen zu zu lassen ist keine Option.

Doch heute ist das Bedürfnis nach ungeteilter Zeit mit meinem besonderen Sohn nicht mehr zu ignorieren. Ich sage den Tagdienst ab und freue mich auf diesen Tag. Die großen sind in der Schule. Papa ist arbeiten. Das Baby schläft. Jetzt habe ich Qualitätszeit mit meinem Sohn. Wir genießen das beide sehr. Ich werde in einem extra Beitrag darüber berichten.

Am Ende des Tages bin ich so müde wie schon lange nicht mehr. Seine Pflege, das Baby, die Bedürfnisse der großen, Hausaufgaben, der Hund und der Haushalt sind nicht unter einen Hut zu bringen. Ich war den ganzen Tag in Aktion und bin doch nicht allem gerecht geworden.

Die Pflege meines Sohnes braucht viel Zeit, verlangt viel Aufmerksamkeit. Es geht nicht nebenher. Ich muss stets konzentriert und ganz bei der Sache sein. Ein falscher Handgriff könnte für ihn der letzte sein. Es ist zu gefährlich, die Infusionen hektisch und im Chaos zu wechseln.

Für heute war das gut. Genau richtig.

Doch für morgen freue ich mich wieder darüber, dass jemand kommt und ihn professionell, mit Zeit und in Ruhe versorgt.

Ich bin dankbar, zu tiefst dankbar um die Unterstützung. Die Herausforderungen die dieses Lebensmodell mit sich bringt nehme ich an.

Ich gebe jeden Tag mein Bestes um es für alle gut zu machen. Für meine Familie. Für meinen besonderen Sohn. Für die Pflegekräfte. Sie sollen sich hier wohl und willkommen fühlen.

Sie leisten großes.

Und manchmal höre ich auf die Stimme in mir, die Grenzen aufzeigt. Die Stimme, die nach Pause ruft. Die Stimme, die nach ungeteilter Zeit mit meinem kranken Kind ruft. Manchmal nehme ich mir die Zeit. Hoffe auf Verständnis seitens des Pflegedienstes und weiß doch, dass sich das Verständnis in Grenzen hält. Denn für sie geht es um Arbeitsstunden. Um Wirtschaftlichkeit.  Das blende ich heute aus und wahre mir die Erinnerungen an diesen wunderschönen Tag mit meinem Sohn.

Nur er und ich.

Eine ganz besondere Perle an meiner Kette mit Erinnerungen. 

Material und Medikamente für einen Tag


Die kaputte Hand

M. isst schon seit mehr als drei Jahren gar nichts mehr. Sein Magen und Darm stehen nahezu still, transportieren keine Nahrung. Nehmen keine Nährstoffe auf. Junior ist komplett per Infusionen ernährt. Nährstoffe, Kalorien und was er so braucht tröpfeln jeden Tag, 24 Stunden lang, über einen implantierten Silikon Katheter der bis kurz vorm Herz liegt, in sein Blut.

M. Darf jederzeit am Familien Esstisch dabei sein. Er muss aber nicht. Oft reicht die Kraft um am Esstisch zu sitzen nicht. Er ist lieber im Bett.

Wenn er mit am Tisch sitz hat er den festen Job des Verkäufers. Brot, Wurst, Käse, Butter, Gurke, Töpfe und Salat stehen in seiner Reichweite. Jeder der etwas essen möchte bittet ihn, etwas zu verkaufen. Er schneidet dann gurkenscheiben ab, bei Bedarf die Brotscheibe in zwei Hälften. Er gibt Salat aus oder Nudeln. Dann nennt er den Preis für seine Leistungen. Meistens sind das 170 Euro. Der Empfänger des vollen Tellers schmeißt das Geld imaginär über den Tisch in seine Richtung. Er steckt es ein und wirkt glücklich dabei. Alle können sich auf dieses Spiel einlassen, es ist längst fester Bestandteil am unserem Familien Tisch.

Witzig ist es, wenn M. als Preis zwei Cent nennt. Unsere Mädels schmeißen imaginäres Geld und fragen nach Rückgeld. Junior schmeißt gern mal 200 Euro als Rückgeld oder 1000 Cent. Ein guter Geschäftsmann ist nicht an ihm verloren gegangen. Doch er bereichert unsere Essen Situationen immer wieder mit viel Lachen und guter Laune.

Heute kauft mein Mann bei ihm ein Laugenbrötchen. Er fragt junior, ob er es gleich aufschneiden und Butter schmieren kann. Unsere Töchter sagen immer, M. schneidet die Brötchen nicht auf, er ruiniert sie. Da haben sie nicht ganz Unrecht. Es sieht spannend aus, wie er das Brötchen bearbeitet. Eher nach Schnitzarbeiten oder abrissarbeiten auf einer Baustelle. Das macht meinem Mann nichts aus. Er nimmt das Brötchen auch zerrupft in mehreren Stücken.

Junior macht sich daran die einzelnen Brötchenfetzen mit Butter zu bestreichen. Auch das ist unkoordiniert. Höchstarbeit für ihn. Aber er macht es immer wieder gerne.

Seit einigen Wochen fällt uns in verschiedenen Bereichen auf dass, die Kraft in seinen Händen weniger wird. Malen mit einem Stift oder schneiden mit der Schere sind Dinge, die er gut konnte. Nun aber zunehmend schwierig werden. Oft sagt er, die Hände fühlen sich komisch an. Er meint damit wohl, dass die Kraft immer weniger wird.

Er versucht hoch konzentriert die weiche Butter auf dem Brötchen zu verteilen. Ganz still wird er. Ich beobachte ihn bei seiner Arbeit und sehe eine stumme Träne über seine Backe kullern. Und noch eine. Dann fällt das Messer aus seiner Hand. Es gibt für ihn kein Halten mehr. Verzweifelt fängt er an bitterlich zu weinen. Ich nehme ihn in den Arm, sage dass alles okay ist. Er hat das super gemacht. Papa nimmt dankend den Teller mit den Brötchen Stücken entgegen.

Doch M. sagt schluchzend "alles kaputt" er meint seine Hände. Er sagt, die Hände sind fix und fertig. Die können nicht mehr. Sind kaputt.

Er ist so traurig, getroffen von dieser Erkenntnis, dass er nicht aufhören kann zu schluchzen. Ich spüre einen dicken Kloß in meinem Hals, auch Papa reißt sich zusammen.

Ich bringe meinen Sohn ins Bett. Erschöpft kuschelt er sich dankbar in sein Kissen. Die große Schwester holt ihre lieblings kuscheltiere aus ihrem Zimmer, leiht sie ihm für die kommende Nacht aus. Das ist ihre Art mit der Situation umzugehen, sie muss etwas tun.

Mein Abendessen ist beendet. Während Papa mit den Mädels noch fertig isst mache ich M. fertig fürs Bett. Ich sondiere Medikamente, kontrolliere und erneuere Verbände. Ich katheterisiere, putze die Zähne und lege mich dann neben ihn in sein Bett. Wir halten uns ganz fest. Ich sage ihm wie toll er ist. Genau richtig.

Mein Junge. Mein toller Junge!

Er schläft heute schnell ein. Ich bleibe noch lange bei ihm liegen. Ich höre ihm beim atmen zu, küsse und steichle ihn. Ich kann die Tränen nicht zurück halten. Es tut weh! Es tut weh den Zerfall seines kleinen Körpers so zu sehen. Es tut weh, neu vor Augen zu haben, wie krank das geliebte Kind ist. Noch mehr tut es weh, zu sehen wie bewusst er diesen Prozess wahrnimmt und wie traurig ihn das macht. Wie hilflos ich nur für ihn da sein kann. An der Situation aber nichts zu ändern ist.

Wie geht das weiter? Was kommt als nächstes auf uns zu? Gedanken Karussell. Und das bekomme ich heute Abend auch nicht mehr gestoppt. Es ist okay. Ich hänge den Gedanken nach. Ich darf auch einfach traurig sein.

Heute Nacht kommt kein Pflegedienst. Sie ist krank. Das ist vielleicht auch ganz gut so. Ich versorge meinen Sohn heute gern alleine. Bin gern in seiner Nähe. Höre gern sein schnarchen. Ich küsse ihn immer wieder und habe Zeit meine Gedanken aufzuschreiben.

Morgens bin ich müde. Junior und das Baby nachts zu versorgen ist nicht schön zu reden, es ist anstrengend.

Dennoch geht es mir heute morgen besser. Junior ist gut gelaunt aufgewacht. Er wird das Bett heute vermutlich nicht verlassen. Blass ist er, müde und kraftlos. Aber fröhlich. Motiviert für diesen neuen Tag.

Wir gehen den Weg zusammen. Ich mit ihm, wir als ganze Familie. Sich traurig und hilflos zu fühlen ist völlig okay. Auch das weinen über diese Situation.

Genau so ist es okay weiter zu machen. Fröhliche Tage zu gestalten. Zu lachen. Zu leben.

Heute wählen das: Lachen. Spielen. Kuscheln. Leben.


28. Februar : Tag der seltenen Erkrankungen

Heute ist der Tag der seltenen Erkrankungen. Ich komme ins Nachdenken.

Erkrankung. Selten.

Beides trifft seit sieben Jahren auf uns zu. Seit unser Sohn bei uns ist. Mit seiner Geburt wurde mein vertrautes, planbares Leben aus allen Fugen gehebelt. Alle Erwartungen, alle Vorstellungen wie mein Leben aussehen wird, lagen mit einem mal als großer Scherbenhaufen vor mir.Schnell war klar, dass mit all den Besonderheit die mein Sohn mitgebracht hat, nichts mehr sein wird wie es schon immer war.

Juniors Erkrankung ist extrem selten. Selbst die Ärzte der großen Kliniken haben noch niemanden gefunden, der exakt das selbe krankheitsbild hat wie er.

Selten.

Das macht diesen besonderen Weg oft noch schwieriger. Dass dieses Kind irgendwie besonders ist war nicht zu übersehen. Doch es passte irgendwie alles nicht in irgendwelche vorhandenen Diagnosen und Prognosen. Wie oft habe ich verzweifelt bei Ärzten um Rat gesucht und in ebenfalls ratlose Gesichter gesehen und ein schulterzucken zur Antwort erhalten. Immer wieder wurden wir weg geschickt, denn das was unser Sohn so alles zeigt kann gar nicht sein. Epilepsie. Eine enorme Entwicklungsstörung. Stillstand des Magen und des Darms. Überall Entzündungen. Gleichzeitig waren alle Blutwerte und mrt Bilder lange unauffällig.

Oft zweifelte ich an mir. Mache ich was falsch? Bin ich verantwortlich für all seine Schwierigkeiten? Könnte ich etwas besser machen und damit all seine Auffälligkeiten beheben? Es gab diesen einen Arzt, der genau das sagte. Ich bin schuld. Dieses Kind hat nichts - außer unfähige Eltern. Das saß lange Zeit tief! Ich verfiel in Aktionismus. Ging mir junior von Therapie zur Therapie. Hinterfrage alles, was ich bisher selbstverständlich tat. Alles half nichts, die Diskrepanz zu gleichaltrigen wurde immer größer. Die Ernährungssituation immer schwieriger.

Noch heute erfüllt mich eine unglaubliche Dankbarkeit für diese eine Ärztin, die mich und M. Ernst nahm. Frau Dr Baum hat mir zugehört, hat mich ernst genommen und ist den Weg mit uns zusammen ein ganzes Stück weit gegangen. Endlich hatte ich eine Ansprechpartnerin. Endlich jemand, der die Herausforderung annimmt neue Wege zu gehen. Um Ecken zu denken. Endlich jemand, der mein Kind nimmt wie es ist und versucht Antworten zu finden. Die Schuld nicht bei den Eltern sucht.

Die Diagnostik zieht sich über Jahre. Mehrere scans gingen über juniors DNA, unzählige Blut Untersuchungen, Analysen seiner Ausscheidungen. Regelmäßige Bildgebung von seinem Hirn und anderen Organen. Wochenlange Klinik Aufenthalte. Stundenlange Untersuchungen und Gespräche.

Immer wieder die Hoffnung, endlich des Rätsels Lösung zu finden. Was ist der Ursprung von all seinen Baustellen? Gibt es irgendetwas, was den sichtbaren Zerfall seines Körpers aufhalten kann?

Immer wieder die selben Ergebnisse : alles unauffällig. Zum einen immer wieder Aufatmen und hoffen - vielleicht wird ja doch noch alles gut.

Zum anderen immer wieder neu der Ungewissheit ausgeliefert - was stimmt nicht mit meinem Sohn, was kommt noch auf uns zu?

In dieser Zeit habe ich mir oft gewünscht, dass mein Sohn, wenn er schon krank sein muss, irgendetwas bekanntes hat. Irgendetwas mit einem klaren Behandlungsplan. Irgendetwas mit einer planbaren Prognose. Etwas mit bekannten Abläufen, was passiert als nächstes und was tun wir dann?

Stattdessen schlitterten wir von einer Katastrophe in die nächste. Auf meine verzweifelten Fragen - warum kommt jetzt dieses auch noch dazu - bekam ich regelmäßig die Antwort "ich weiß es nicht, weil es M. ist. Er stellt uns vor unlösbare Rätsel"

Mittlerweile haben wir eine Idee was der Grund seiner Erkrankung ist. Es ist eingrenzbar. Wir haben einen Oberbegriff, wissen dass sein Problem im Energiestiffwechsel liegt. Dennoch ist die Ausprägung die er zeigt völlig unbekannt. Prognosen schwierig. Nur dass es eines Tages nicht mehr mit dem Leben vereinbar ist, das ist mittlerweile eine ausgesprochene Sicherheit.

Wieviel Zeit uns bleibt, was noch auf uns zukommt, ob noch Entwicklung möglich ist oder nur noch rückwärts geht... All das kann keiner beantworten. Denn seine Erkanung ist selten.

Sehr selten.

Wir behandeln symptomatisch. Wir versuchen alles, um es ihm so leicht wie möglich zu machen. Manches nehmen wir hin. Wir gehen mit den Ärzten zusammen völlig unkonventionelle Wege. So ist unser Sohn nicht nur mit seinem Krankheitsbild einzigartig sondern auch mit der resultierenden Behandlung. Es ist wichtig, dass M. von Ärzten betreut und versorgt wird, die ihn und seine Geschichte kennen.

Mit diesem regime geht es ihm im Moment, im Rahmen seiner Möglichkeiten, gut. Wir genießen den Moment freuen uns am heute. Wir wissen dass es schon morgen wieder ganz anders aussehen kann. Wir wissen, dass die nächste Katastrophe bereits vor der Tür stehen könnte. Wir haben Respekt davor, doch keine lähmende Angst.

Dafür das ist das Leben mit unserem Sohn

zu schön.Zu wertvoll. Zu lustig.

Erkrankt. Als Kind. Schwer erkrankt. Lebensverkürzend erkrankt. Erkrankt an einer seltenen krank. Einer sehr sehr Seltenen Krankheit.

All das klingt falsch. Aber es ist unsere Realität. Die Realität von anderen Betroffenen. Diese Schicksale sind selten. Gott sei dank. Aber es gibt sie. Und deshalb gibt es diesen Tag heute. Den Tag der seltenen Erkrankungen.

Der Scherbenhaufen der einst vor uns lag ist mittlerweile ein Haufen voller Glücksmomente, voller Chancen, Erkenntnissen und voller Liebe. Ich empfinde unseren besonderen Weg nicht mehr als kaputt. Als falsch. Oder ungehbar. 

Er ist besonders. Er ist selten. Aber es ist unser Weg. Unsere größte und zugleich schönste Herausforderung. 


Die englisch Hausaufgabe

Wir sitzen am Mittagessen Tisch. Ich frage meine Töchter wie es in der Schule war, und ob sie viele Hausaufgaben haben. In der Schule war es gut, und ja sie haben Hausaufgaben auf.

Die mittlere sagt gleich, dass sie die Hausaufgaben heute nicht machen kann. Das wundert mich, denn sie ist sehr fit in der Schule und Hausaufgaben machen ist in der Regel überhaupt keine Schwierigkeiten. Ich frage sie, um was es geht und ob ich ihr helfen kann . Sie sagt Es betrifft die englisch Hausaufgaben (Grundschul Englisch).

Sie soll ihre Familie malen und dann in einfachen englischen Sätzen jedes Familien Mitglied beschreiben.

Okay, beim Schreiben helfe ich gerne. Sie soll schonmal anfangen zu malen. Verzweifelt sagt sie, dass das genau das Problem ist. Ich verstehe nicht was sie meint und frage nochmal nach. Sie ist total kreativ und malt gerne. Sie erklärt mir, dass sie nicht weiß, wie sie einen Jungen im Rollstuhl malen soll. Außerdem kann sie keinen Infusionsständer mit all den infusionsleitungen malen. Ja, ich verstehe das Problem. ich schlage vor, ihren Bruder als ganz normales Männchen zu malen . Es geht ja nur darum, in einem englischen Satz zu schreiben, dass sie einen Bruder hat, der 7 Jahre alt ist.

Entsetzt schaut sie mich an und erwidert, dass das ja gelogen wäre. Schließlich hat sie keinen ganz normalen Bruder, der stehen und laufen kann und keine Infusionen an sich hängen hat.

Da hat sie recht. Normal ist hier bei uns wohl nichts. Es ist für sie leicht Mama, Papa, Schwester und das Baby zu malen, sogar der Familienhund ist kein Problem. Auf Englisch ihre Familie zu beschreiben ist auch nicht die Schwierigkeit. Doch dieser Rollstuhl stellt sie vor eine künstlerische Herausforderung. Und was heißt eigentlich Rollstuhl und behindert auf Englisch? Sie findet es unfair. Alle anderen müssen nur normale Menschen malen und ganz normal beschreiben.

Ich merke, dass die Umsetzungen der Hausaufgaben heute tatsächlich ein Problem für sie darstellt. Also setzen wir uns zusammen an ihren Schreibtisch und überlegen uns, wie man einen Rollstuhl malen kann in dem ein Junge sitzt der Infusionen bekommt. Meine Tochter entscheidet sich , die Infusionen in einem Rucksack zu malen, das ist einfach als ein infusionsständer.

Wir überlegen uns, wie jeder einzelne gut beschrieben werden kann und Schlagen die Wörter nach, die sie nicht weiß.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen! Ein tolles Familienportrait hat sie gemalt. Sie schreibt 'this is my brother. He is 7 years old. He has a wheelchair because he is disabled'

Meine Tochter freut sich über den Erfolg, das hat sie gut gemacht!

Und ich denke noch lange über diese Situation nach. Die Andersartigkeit unserer Familien Situation zieht sich durch alle Lebensbereiche, bis in die Englisch Hausaufgaben meiner achtjährigen Tochter. Unser besonderer Sohn fordert von uns allen immer wieder besonders viel Kreativität. Spontanität. Improvisation und individuelle Lösungen. 

Später sagt meine Tochter zu mir 'gut, dass wir M. haben, jetzt weiß ich als einzige in meiner Klasse, was Rollstuhl und behindert heißt'

Ja, wie gut dass wir ihn haben, unseren Sohn und Bruder mit allem was er an Besonderheiten mitbringt. Gut, dass er bei uns ist und unser aller Leben so sehr bereichert!


Der siebte Geburtstag

Junior hatte Geburtstag.

7 Jahre ist er nun alt. Irre!

Die Prognosen der Ärzte hat er um einen weiteren Geburtstag überschritten.

Dieser Geburtstag , sein siebter Geburtstag, ist für mich sehr besonders. Sehr emotional. Ich staune über unseren großen Kämpfer. über all das, was er schon geschafft hat, was wir geschafft haben! Ich bin dankbar, dass er bei uns ist an diesem Tag. Ergriffen von Glück und Liebe. Stolz erfüllt mich.

Gleichzeitig ist da die Angst vor dem unaussprechlichen. Davor, dass es in diesem Jahr passieren könnte, davor dass es der letzte Geburtstag sein könnte. Diese Gedanken tun so weh. Sie schnüren mir die Kehle zusammen, nehmen mir die Luft zum atmen. Treiben mir Tränen in die Augen.

Ich schiebe sie zur Seite, diese Angst und komme zurück in den Moment. Jetzt sind wir alle zusammen hier. Mein Sohn trägt voller Stolz die rote Krone mit seinem Namen und einer großen 7 darauf. Heute feiern wir seinen Geburtstag, wie sehr er sich auf diesen Tag gefreut hat! Wir feiern mit Kuchen, Luftballons, Geschenken, singen und viel Zeit als Familie.

Die Geburtstagsbesuche verteilen wir auf mehrere Tage. Alle auf einmal wäre zu viel für M. Er könnte es nicht genießen, wäre mit einem vollen Haus völlig überfordert. Besonders hat er sich auf seine Cousinen und cousins gefreut.

Kinder zum Spielen. Erwachsene reden immer so viel, sagt Junior.

Um 14 Uhr erwarten wir seinen Onkel und seine Tante mit ihren drei Kids zum Kuchen essen. Junior wird nichts essen. Dennoch ist ihm der Geburtstagskuchen ganz wichtig. Zusammen decken wir den Tisch. Wir dekorieren mit Luftballons und Luftschlangen. M. hilft mir bei den Vorbereitungen fürs Abendessen und freut sich so sehr, später mit allen an dem großen bunt geschmückten Tisch zu sitzen.

Um 12 Uhr bringe ich ihn ins Bett, er soll sich noch etwas ausruhen. Sofort schläft er ein.

Als um 14 Uhr die Gäste kommen, schläft er immernoch. Ich wecke ihn vorsichtig. Er möchte schnell aus dem Bett und krabbelt zu den Gästen ins Wohnzimmer. Leider machen seine Kräfte nicht mit. Er sitzt auf dem Fußboden. Blass. Kaltschweißig. Bekommt keinen Ton heraus. Er kann sich nicht freuen. Er versucht sich zusammen zu reißen, stark zu sein. Er versucht die völlige Erschöpfung zu überspielen. Das passt jetzt gerade nicht, er möchte doch Geburtstag feiern. Doch sein körper streikt. Das Sitzen wird zu anstrengend. Er friert. Er kann nicht mehr. Ich trage ihn zurück in sein Bett. Dankbar legt er sich aufs weiche Kissen und lässt sich zudecken. Ich schalte seine wärmelampe über dem Bett an. Da sehe ich eine Träne in seinen Augen. M. ärgert sich so unglaublich, dass sein kranker Körper ihn schon wieder im Stich lässt. Ich kann ihn so gut verstehen. Ich tröste ihn und ermutige ihn, seinem Körper die Ruhe zu geben die er braucht.

Währenddessen versammelt sich die Verwandtschaft am großen Esstisch. Ich mache Kaffee für die Erwachsenen und kakao die die Kinder. Wir singen ein lautes happy birthday, das M. bis in sein Zimmer gut hören kann. Er freut sich. Jeder bekommt Kuchen und kekse. Ein fröhliches Miteinander. Nur leider ohne das Geburtstagskind. Er schläft.

Nachmittags gehen wir raus in den Garten. Die Sonne scheint so herrlich. Ich versuche es Noch einmal und wecken meinen Sohn. Ich frage ihn ob er mit in den Garten möchte. Klar möchte er. Ich ziehe ihn warm an. Packe all seine Infusionen in einen Rucksack und setze ihn in seinen Rolli. Im Garten kann er mit den Kindern spielen.sie können sogar ein Feuer in der Feuerschale machen. Fröhlich sitzt er nun in seinem Rolli an der Feurschale und wirft ein Zweig nach dem nächsten ins knisternde Feuer. Ich achte darauf, dass keines seiner Schläuche heiß wird oder im Dreck hängt. Blass ist er und langsam. Seine Sprache undeutlich. Doch er kann dabei sein.

Er ist so glücklich.

Nach einiger Zeit bringe ich ihn wieder rein, zurück ins Bett. Ich wasche ihn, gebe Medikamente und überprüfe sämtliche Verbände. Dankbar kuschelt er sich ein und lauscht aufmerksam seinem Hörspiel. Ich Decke den Tisch fürs Abendessen. Auch hier kann Junior nicht dabei sein. Während alle fröhlich zusammen zu Abend essen, das Essen, dass er mit mir vorbereitet hat, liegt er blass und müde im Bett. Enttäuscht oder traurig darüber ist er nicht. Das bin nur ich.

Er ist glücklich. Er sagt mir, was das für ein wunderschöner Tag war und schläft ruhig ein.

Ich bin so Dankbar, dass er bei uns ist. Dankbar, dass er seine Fröhlichkeit behält und im Moment lebt. Er feiert das was schön ist mit jeder Faser seines Körpers. Dafür braucht es nichts großes, außergewöhnliches. Besuch von der Verwandtschaft und ein Feuer im Garten reichen für ihn, um völliges Glück zu empfinden.

Das schwierige hält er tapfer aus ohne dabei bitter zu werden.

Dieser siebte Geburtstag war alles andere als normal. Ihn mit dem eines gesunden Kindes zu vergleichen ist unmöglich. Die Kluft zwischen meinem Sohn und den gesunden gleichaltrigen wird immer größer. Während die gesunden Kinder Fußball spielen, auf Bäume klettern, fangen spielen und Fahrrad fahren wird sein körper immer kranker, immer schwächer. Aber fröhlich ist er, mein besonderer Sohn. Und weil er es ist, bin ich es auch. Fröhlich. Glücklich. Dankbar.


Schule

Er liebt die Schule. Er liebt es mit den anderen Kindern zu singen, er liebt 'mathetik' und sachunterricht. Doch am meisten liebt er die Pause. Da unterscheidet er sich wohl kaum von den gesunden Kindern.

Wenn es zur Pause läutet düst er mit seinem Rolli auf den Pausenhof. Am Liebsten spielt er Fußball. Ja, das funktioniert auch mit Rolli wunderbar. Er ist ein guter Torwart. Nicht immer sind die laufenden Kinder begeistert wenn er mitspielt. Doch das ist ihm egal. Er diskutiert nicht. Er fährt ins Spielfeld und spielt einfach mit. Er lacht und jubelt und bringt alle um ihn herum ebenfalls zum schmunzeln. Die Pflegekraft, die ihn begleitet kommt kaum hinterher. Sie muss nach all seinen Kabeln und Schläuchen schauen, dafür sorgen, dass er nirgends hängen bleibt. Nach dem Fußball fährt er eine Runde Rolli Karussell oder stattet seiner ehemaligen Kindergarten Gruppe einen Besuch ab. Der Kindergarten und die Schule teilen sich den selben Pausenhof.

Diese zwanzig Minuten sind seine zwanzig Minuten. Das Wochen Highlight.

Er liebt diesen Pausenhof der durch und durch Rolli tauglich ist. Geht nicht gibt es hier nicht. Er liebt seine Lehrerin und die freche Handpuppe, die die Kinder mit den Kindern zusammen die Buchstaben lernt. Er liebt die Schultage.

Und ich liebe es, wenn er Mittags durch und durch gut gelaunt nach Hause kommt. Wenn er lacht und mir fröhlich erzählt wie schön sein vormittag war. Ich liebe es, ihn so glücklich zu sehen.

Durch seine schwere Erkrankung sind seine Kräfte sehr begrenzt. Er schafft er höchsten drei mal die Woche für zwei bis drei Stunden in die Schule. Oft auch weniger. Den Rest seiner Zeit verbringt er  in seinem Bett oder mit seinen playmobil Fahrzeugen auf dem Fußboden seines Kinderzimmers.

Junior ist aktuell stabil. Es geht ihm gut. So gut, dass wir Staunen und uns fragen, was wir tun können, um diese "gut " zu konservieren. Es einzufangen und als Dauerzustand einzuschalten. Wir können nichts tun. Uns bleibt nur, dieses" gut" zu genießen. Es zu nutzen um Erlebnisse und Erinnerungen zu schaffen. wir müssen dieses "gut" nutzen, um ihm all das zu ermöglichen was im nächsten Tief - und das wird kommen - nicht mehr denkbar ist.

Immerzu ist mein Sohn auf die Begleitung einer pflegenden Person angewiesen. Jemanden, der ihn regelmäßig Katheterisiert, jemanden der Medikamente per Infusion verabreicht, jemand der nach all den Verbänden schaut und bei einem Krampfanfall schnell reagiert.

Wenn niemand vom Pflegedienst da ist mache ich das alles. Aktuell spüren wir die angespannte Situation in der Pflege. Fachkräftemangel. Corona Quarantäne des Pflegepersonals. zur kalten Jahreszeit kommen krankheitsbedingte Ausfälle hinzu.

So geht es meinem Sohn aktuell gut. Sehr gut. Dennoch darf er nicht in die Schule, die er so sehr liebt. Die ihm so gut tut. Die ihm ein kleines bisschen Normalität verschafft. Stattdessen bleibt er mit mir und dem Baby zuhause. Ich habe ihn gerne hier bei mir. Ich spiele gerne einige Runden Uno mit ihm oder sein lieblings Spiel 'drecksau'. Ich versorge ihn pflegerisch und spure ein paar M's oder A's nach. Der Haushalt bleibt an diesen Tagen liegen. Neben Juniors aufwendigen Versorgung bleibt keine Zeit zum Staubsaugen oder Bad putzen. Das macht nichts. Hier geht es um meinen Sohn, nicht um meine Bedürfnisse. Ich lege heute eine Nachtschicht ein, um mit der Wäsche und Co fertig zu werden. Jetzt gebe ich mir alle Mühe, meinem Sohn schöne vormittage zu gestalten. Aber in alle dem was ich hier mit dem Baby in der Trage mache spüre ich, dass ich niemals die Schultage ersetzen kann.

Es tut ihm so gut, raus zu kommen. Kinder zu treffen. Fußball zu spielen.

Heute bringe ich ihn ins Bett. Er fragt mich, ob er morgen in die Schule gehen darf. Ich verneine. Der pflegedienst fällt krankheitsbedingt wieder aus. Seine Augen werden rot, sie füllen sich mit Tränen. Er möchte nicht weinen, reißt sich zusammen. Ich nehme ihn in den Arm und da bricht es aus ihm heraus. Er weint wie ein kleines Kind. Er sagt dass er so traurig ist weil er nicht gehen darf. Er sagt seine Freunde brauchen einen Torwart. Er schluchzt und große Tränen rollen über seine Backen. Er sagt alle dürfen in die Schule, nur er nicht. Ich versuche ihn zu trösten. Ich möchte stark bleiben, ihm sagen dass alles okay ist. Doch es gelingt mir nicht. Jetzt rollen auch mir die Tränen über die Wangen. Er hat doch recht! Nichts ist okay. Es ist einfach nicht fair.

es tut mir so leid! So unendlich leid.

Ich halte ihn ganz fest im Arm. Er schluchzt sich in den Schlaf. Ich bleibe noch eine ganze Weile bei ihm. Halte ihn fest. Streichle ihn. Sage ihm immer wieder, wie leid es mir tut. Er schläft ruhig.

ich weine heute Abend noch lange.

Dabei mache ich keinem einen Vorwurf. Die Leitung des Pflegedienstes kann nichts dafür. Sie kann sich das personal ja auch nicht her zaubern. Ich glaube, sie würde es sich für M. ja auch anders wünschen. Die angespannte Situation in der Pflege trifft uns hart.

Trotzdem bleibt diese Traurigkeit, der Schmerz in meinem Herzen, die Enttäuschung darüber, dass meinem Sohn so normale Dinge wie in die Schule gehen verwehrt bleiben, weil er krank ist. Weil er anders ist, besonders. Weil er auf Hilfe angewiesen ist. Es sind so kleine Stellschrauben, die das Leben meines Sohnes für ihn lebenswerter machen. Hier wären es 9 Stunden in der Woche, die er eine Pflegekraft bräuchte um in die Schule zu dürfen. Doch was ich auch tu - diese Stunden bleiben ihm im Moment verwehrt. Ich hoffe, die Lage entspannt sich zügig. In der Zwischenzeit gebe ich mein Bestes mit ihm hier zuhause.

Weil ich ihn, mein besonderes Kind, von ganzem Herzen mega arg, nicht in Worte zu fassen, liebe. 


Gedanken zum neuen Jahr

Nun ist dieses Jahr schon einige Tage alt. Weihnachten und Silvester liegt hinter uns. Der Alltag hat uns wieder.

Leider war M. Um die Weihnachtstage um am Jahresende sehr krank.

Eine Woche vor Weihnachten steht Weihnachtsbaum kaufen auf meiner todo Liste. Seit Tagen spricht Junior davon, dass er mit möchte.

Er möchte dabei sein, wenn wir einen Baum aussuchen. Er möchte mit entscheiden. Er möchte teilhaben an dieser Aktion.

So gebe ich ihm großzügig Medikamente, die das Fieber senken. Als die Wirkung Eintritt und Junior nicht mehr ganz so heiß glüht packe ich ihn warm ein und trage ihn zum Auto. Wir alle fahren zu einem Landwirt in der Nähe der jedes Jahr Weihnachtsbäume aus seinem Wald verkauft. Dort angekommen steigen die großen Mädels fröhlich schnatternd aus dem Auto aus. Das Baby packe ich in den warmen Schaffell Sack in den Kinderwagen. Dann hole ich M. aus seinem Autositz. Blass ist es und kaltschweißig. Schlapp und sehr müde. Doch grinst er glücklich, als ich ihn in seinen Rolli hieve. Ich sage meinen großen Töchtern dass wir nicht viel Zeit zum Schlendern und Aussuchen haben.wir müssen uns beeilen, sonst schafft Junior das nicht. Gesagt getan schiebe ich das Baby im Kinderwagen und Sohnemann im Rolli durch die dichtstehenden abgehackten Tannen. Bäume in allen Größen stehen hier zum Verkauf. Die Kinder sind sich einig: groß muss der Baum sein und prächtig. Ich Lotse sie zu der Richtung in der die mittelgroßen Bäume stehen. Ohne nachzumessen müssten die ungefähr passen. Ich verlasse mich auf mein Augenmaß. Junior zeigt auf einen Baum. Ich tausche Blicke mit meinen Töchtern aus und alle nicken zustimmend. Wunderbar, das geht ja wirklich schnell. Ich hole den Verkäufer dazu und deute auf den Baum, den wir ausgesucht haben.

Der junge Herr inspiziert kurz die Kinder Schar um den Baum herum. Sein Blick bleibt bei dem Kind im Rolli stehen, das sichtlich geschwächt fröhlich oh Tannenbaum singt. Nach kurzem zögern holt er den ausgesuchten Baum und trägt ihn zur Weihnachtsbaumnetz Maschine. Unsicher schaut er zu M. Und fragt ihn, ob er den Baum durch die große Trommel ziehen möchte. M. strahlt und jubelt. Klar möchte er. Zusammen mit dem Verkäufer packt mein so kranker Sohn nun den Weihnachtsbaum für dieses Jahr in ein Netz. Wie stolz er ist. Wie glücklich. Er darf nicht nur dabei sein. Er wird gebraucht. Er kann helfen. Ich staune über den niedrigen Preis den der nette junge Herr mir nennt. Er sagt das passt so und lächelt M. freundlich zu. Ich bezahle, bedanke mich und laufe mit meinen vier Kindern zurück zum Auto.

Die Mädels singen "ideal rundherum, alles prächtig und nicht krumm, das ist unser Weihnachtsbaum, ein wahrer Traum"

Baum aussuchen, einpacken und bezahlen war eine Sache von zehn Minuten. Wir haben alles sehr schnell abgewickelt. Die Mädels schnallen sich selbstständig an. Das Baby packe ich in die Babyschale und M. In seinen reha Autositz. Den Baum, den Kinderwagen und den Rolli noch verstauen und dann fahre ich nach Hause.

Mein Sohn schläft schon im Auto ein und wacht den Rest des Tages nicht mehr auf. Das war anstrengend für seinen kranken Körper. Doch wohltuend für seine kleine kinderseele. Die nächsten Tage wird er allen erzählen, dass er den Weihnachtsbaum ausgesucht und in ein Netz verpackt hat.

Natürlich war der Baum letztlich viel zu groß. Wir mussten ihn zurecht sägen. Sehr hübsch war er auch nicht. Krumm gewachsen und eher etwas karg. Aber das ist egal. Dieses Jahr hatten wir einen der schönsten Weihnachtsbäume der Geschichte. Staunenden betrachte ich diesen Baum.

Mein Sohn berührt die Herzen. Seine gute Laune ist nicht zu bremsen, sie steckt die Menschen sogar an, wenn er schwer krank ist und eigentlich im Krankenhaus liegen sollte.

Die Weihnachtstage gestalten wir ruhig. M. Ist viel im Bett. Sein Körper braucht Zeit und viel Ruhe.

Zum Jahreswechsel habe ich auf unsere große Familien Tafel "Wünsche für 2022" geschrieben. Jeder durfte seine Wünsche drum herum schreiben. Das erste was meine Tochter schreibt "kein Krankenhaus". Die andere nimmt eine Kreide und schreibt "Spiele Nachmittage" sie zögert einen Moment und ergänzt dann "mit meinem Bruder". Ich Kämpfe fast mit den Tränen. Sie könnten hier auch "ein neues Tablet" oder "all inclusive Urlaube" aufschreiben. Mit ihren acht bzw zehn Jahren ist ihnen schon bewusst, wie viel wertvoller gemeinsame Zeit gegen irgendwelche materiellen Dinge ist. Der einzige materielle Wunsch meiner Töchter ist "Dampfnudeln mit Vanillesoße". Die sollen sie bekommen :)

Im Januar geht der Alltag wieder los. Schule. Papa geht arbeiten. Routine. M. Kann noch nicht wieder los. Er ist auf einem guten Weg, dennoch im Moment noch zu geschwächt um das Haus zu verlassen. Er ist traurig. Gerne möchte er auch zur Schule.

Wie doll er sich freut, als sich sein ehrenamtlicher Begleiter vom Kinder- und Jugend Hospiz nun nach der Ferien Pause wieder ankündigt! Er kommt regelmäßig um mit M. zu spielen, zu basteln, vorzulesen oder einfach nur da zu sein. M. liebt ihn und die Stunden, die er mit ihm verbringen darf. Wie schön, dass seine Kraft heute für einige Spiele reicht.

Beim Verabschieden sagt der ehrenamtliche Hospiz Mitarbeiter anerkennend zu meinem Sohn "Du bist ein kleiner Kämpfer". Dieser wehrt sich sofort lautstark und sagt "Nein! Nicht klein! Ich bin ein großer Kämpfer" er lacht und lehnt sich zurück in seine Kissen.

Ja, das ist er. Ein großer Kämpfer. Er lässt sich nicht unterkriegen, gibt sich nicht mit ein bisschen oder 'geht nicht' zufrieden. Im Kampf gegen diese Krankheit lässt er es sich nicht nehmen immer wieder als strahlender Sieger hervor zu gehen. Aus ärztlicher Sicht kann er nur verlieren. Diese Krankheit wird eines Tages stärker als er. Er ist und bleibt dennoch der Sieger der Herzen.

Der kleine Junge, der Herzen berührt.

Der Junge, der Menschen zum Nachdenken und zum Lachen bringt.

Er, der seine Umwelt zum Staunen bringt

und sämtliche Schranken , die diese Krankheit ihn in den Weg stellt aushebelt.

Wo er ist, ist gute Laune. Selten wird es still und betrübt in seinem Zimmer. Meistens schallt ein lautes Lachen, ein Singen oder summen durch seine Tür ins ganze Haus.

Er ist der Gewinner eines jeden Tages, weil er das Leben in Fülle feiert und jeden Tag zu etwas ganz besonderen verwandelt. Er haucht jedem Moment Kostbarkeit ein.

Und so starte ich in dieses neue Jahr. Ich nehme die Tage wie sie kommen und vertraue darauf, dass über jedem dieser Tage der große Gott wacht an den ich glaube. Ich stehe am Bett meines Sohnes, spreche ein Gebet für ihn, segne ihn. Was auch immer kommt, ich gehe den Weg meines Sohnes in seinem Tempo mit, ich lasse mich von ihm leiten und staune über die Dinge, die er mir zeigt. Die er mich lehrt. Ich freue mich auf das neue Jahr mit meinem besonderen Sohn, meinen besonders tollen Töchtern.

Bin ich ein Glückspilz mit den vieren!