Zeugnis Tag

Heute hat er ein Zeugnis bekommen. Sein erstes Zeugnis. Ein Zeugnis, das mich überrascht hat.

Irgendwie ging ich nicht davon aus, dass es auf Sonderschulen Zeugnisse gibt.

Ein Zeugnis.

Vor zwei Jahren war die Prognose klar : das Schulalter wird es nicht erreichen.

Jetzt hält er ein Zeugnis in der Hand.

Er lebt!

Er war nicht sehr viel in der Schule. Zu oft fehlte die Kraft. Er ist sehr krank. Aber er IST ein Schulkind. Und die erste Klasse liegt nun hinter ihm.

Er wird zweitklässler.

heute zeigt er mir strahlend sein Zeugnis.

Er ist so stolz und sagt "da steht drin, dass ich supergut bin"

Ich bin gerührt. Stolz. Glücklich. Überwältigt. Demütig. Dankbar. Voller Liebe. Alles aufeinmal.

Es Sprudelt nur so über.

Mein lieber Junge - du bist #SUPERGUT! Wie schön, dass DU bei uns bist. Du gehst deinen Weg. In deinem Tempo. Und ich begleite dich so wie du es brauchst. Ich gebe jeden Tag mein bestes. Mal stehe ich vor dir, mal hinter dir. Ich bin für dich da. Ich Kämpfe für dich. An jedem Tag Deines Lebens. Ich liebe Dich und bin unfassbar stolz auf Dich- mein SUPER GUTER


Pflegenotstand

flegenotstand. Fachkräftemangel.

Alles schon gehört. Irgendwo. Irgendwann.

Für uns ist dieses Thema Hochaktuell. Jeden Tag spürbar. Die Krankenkasse genehmigt uns, nach Rücksprache mit dem MDK, jede Nacht eine Nachtwache. Jeden Tag eine Pflegekraft im Tagdienst.

Weil wir das brauchen. Weil seine Pflege weit über das machbare 'nebenher' gewachsen ist. Weil seine Pflege anspruchsvoll ist. Weil die gründliche Pflege sein Überleben sichert.

Es würde von der Kasse bezahlt werden.

Dennoch bleiben immer wieder Dienste unbesetzt. "Kein Personal" ist die Antwort auf mein Nachfragen.

Heute Nacht ist es passiert : ich habe einen #Fehler gemacht. Ich war zu müde. Ja, überfordert nach einem vollen Tag die Nacht durch weiter zu machen. Dieser Fehler ist für mich selbst nicht zu verzeihen. Ich mache mir #Vorwürfe. Bin dankbar, dass offensichtlich nichts schlimmes passiert ist.

Heute Vormittag ist es passiert : ich habe eines meiner Kinder angeschrien. Ich war zu #müde, ja #überfordert nach einem vollen Tag und einer durchwachte Nacht im Alltag weiter zu machen. Für mich nicht zu verzeihen. Das bin nicht ich. Kinder anschreien geht gar nicht!

Beim Blick auf den August Plan musste ich erstmal weinen. Wie soll ich das schaffen? Ja, es ist Urlaubs Zeit. Ich gönne es allen. Doch die Pflege macht keinen Urlaub. Es geht weiter. 24 Stunden an jedem Tag.

Und ich bin so viel allein gelassen.

Viele Nächte am Stück. Und tagsüber wartet der Ferienalltag mit allen Kindern zuhause auf mich. Es geht über meine Kraft. Über das leistbare.

Es ist gefährlich. Denn: gute Pflege ist seine Lebensversicherung.

"Kein Personal" ist die Antwort auf mein Nachfragen.


Heute

Heute ist das Chaos schneller als ich.

Heute sind die Wäscheberge kaum zu bezwingen.

Heute habe ich keinen Pflegedienst zur Unterstützung in seiner Pflege.

Heute steht das Telefon nicht still. Apotheke, sanitätshaus, Uniklinik, Kinderärztin, palliativ team-alle wollen Irgendwas. Eine liebe Freundin ist heute nicht unter den Anrufern.

Heute Kämpfe ich mit der Einsamkeit, die unsere besondere Lebenssituation mit sich bringt.

Heute werde ich nicht jedem Kind gerecht. Seine pflege nimmt mich heute voll ein.

Heute hänge ich ein Medikament nach dem nächsten an seinen Hickman-Katheter. Ich wechsle alle Verbände und Pflaster.

Heute bin ich für sein Überleben verantwortlich. Ein falsche Handgriff könnte der letzte sein. Routine habe ich, ja. Unachtsamkeit ist verboten.

Heute gefällt er mir nicht.

Heute geht es ihm nicht gut.

Heute Habe ich Angst vor dem Tag, an dieses fragile system in sich zusammenfällt.

Heute ist super anstrengend.

Heute gebe ich mein bestes.

Heute sage ich mir wieder, was ich doch wissen müsste :

Heute ist ein Geschenk.


Verschiedene Sichtweisen

Er sitzt auf seinem Palettensofa auf seinem Balkon. Im Garten spielen seine Geschwister und Nachbarskinder. Seine Kraft reicht nicht, um mit raus zu gehen. Bei 32 Grad bittet er um Socken und eine Decke. Er friert. Seinem Körper fehlt heute die Energie an allen Ecken.

Er legt seine Spritzpistolen bereit und ich stelle eine Schüssel mit Wasser neben ihn. Wenn er gleich etwas fitter ist, möchte er vom Balkon aus die Kinder im Garten nass spritzen.

Er wird heute nicht fitter.

Er liegt mit geschlossenen Augen zugedeckt auf dem Sofa. Ich sitze bei ihm. Mein Gedankenkarusell dreht unaufhörlich

"wie schade für ihn"

"was kann ich ihm jetzt gutes tun"

"wie lange kann er noch hier sitzen?"

"oh mein lieber Sohn, es tut mir so leid!"

Dabei schaue ich ihn an, ich schaue das Baby an. Sie zieht sich überall hoch. Übt unaufhörlich das Stehen. Sie erforscht und erkundet ihre Welt von früh bis spät. Mit ihren 8 Monaten ist sie sehr weit . Sie hat einen turbo gezündet was Entwicklung angeht. Wie gegensätzlich die zwei sind. Er wird immer schwächer. Immer eingeschränkter. Sie explodiert vor Energie und legt jeden Tag noch einen Entwicklungsschritt drauf.

Mein Gedankenkarusell überschlägt sich fast.

Traurigkeit auf der einen Seite. Pures Glück auf der anderen. Zerfall und Entwicklung so dicht beieinander.

Da sagt er: "wie schön. Wie im Urlaub! Ich bin Glückspilz."

Das Karussell stopt mit einem ruck, ich werde heraus katapultiert. Zurück in die Realität.

Er empfindet gerade keine Traurigkeit. Er spürt die Sonne auf der Haut. Er hört das planschen der Kinder im Garten. Das fröhliche prabbeln seiner Schwester.

Seine Hand in meiner fühlt er sich wohl. Glücklich. Geborgen und irgendwie sicher. Er gibt diesem Moment einen Sinn. Füllt ihn mit Leben. Wieder gelingt ihm das besser als mir


Epilepsie

Diese doofe Epilepsie.

Er ist morgens fröhlich aufgewacht. Hatte viele Pläne. Lustige Ideen. Mein lieber Sohn. Das wird unser Tag. Ich freue mich auf Abenteuer mit Dir.

Bis er wieder krampft.

Seine Augen zittern. Der Mund schmatzt. Die Arme und Beine zucken.

Ich warte erst zu. Der Krampf hört nicht auf. Ich gebe ein Notfall Medikament. Warte wieder. Seine Augen sind rot. Die Pupillen winzig klein. Sie zittern wild hin und her.

Es hört nicht auf. Ich werde etwas nervös. Ziehe ein weiteres Notfall Medikament auf und Spritze es ihm. Er zuckt immernoch.

Er ist blass.

Der Monitor verrät eine sehr knappe Sauerstoff Sättigung. Jetzt sollte was passieren. Ich verliere meine coolness.

Endlich kommt er zur Ruhe. Der kleine Körper meines Sohnes zuckt und zittert nicht mehr. Er versucht seine Augen zu öffnen. Es ist ihm zu hell. Er weint ganz doll. Ist verwirrt. Total nass geschwitzt. Ich ziehe ihn um. Er ist so schlapp. Noch während ich sein Bett sortiere schläft er ein.

Das krampfen ist unfassbar anstrengend. Die Medikamente machen zusätzlich müde. Nun schläft er. Seit Stunden. Verkabelt. Gott sei Dank stabil.

Der tag ist um. Er hat ihn verpasst.

Das macht mich traurig. Immer wieder schaue ich nach ihm. Streichle ihn über seine weichen Haare. Sage ihm, wie lieb ich ihn habe. Wie unglaublich stolz ich auf ihn bin. Ich Küsse seine kühle Stirn. Halte seine kleine Hand. Ich bin da. Ich passe auf dich auf, mein lieber Sohn. Und das was ich nicht kann, gebe ich ab an den Gott an den ich glaube. Lieber Gott, bitte passe du auf meinen besonderen Jungen ganz besonders auf.


Geschwister

Für unser viertes Wunschkind sind Infusionsleitungen, Ablaufbeutel, Desinfektionsmittel, sterile Handschuhe und das ein- und Ausgehen des Pflegedienstes Alltag seit dem ersten Lebenstag. Sie wächst in einer völlig verdrehten Realität auf.

Sie wird es nie anders kennen. Sie hinterfragt Löcher im Bauch ihres Bruders, aus denen Galle und Dünndarmstuhl läuft, nicht. Der Rollstuhl vor der Tür ist so normal wie das Fahrrad der großen. Verrückt. Und schön zugleich.

BEIDES NEBENEINANDER zu sehen ist spannend.

Manchmal herausfordernd.

Für sie wird sich die Frage nach Inklusion nie stellen. Sie lebt es seit ihrem ersten Atemzug. Beim Thema Essen hat sie ihren Bruder jetzt schon überholt. In anderen Bereichen wird das auch passieren.

Rasante Entwicklungen neben stetigen Abbau. BEIDES NEBENEINANDER. Das ist unsere Realität. Beides hat hat seinen Platz.

Jedes Kind hat seinen Platz.

Ich versuche an jedem Tag jedes einzelne meiner vier Kinder zu sehen. Jedes da wo es ist. Mit dem was es braucht. In aller Regel gelingt mir das gut.

Besondere Geschwister Konstellationen in unserem besonderen Alltag mit besonderem Kind. 


Ein Tag in der Kinderklinik

Blutentnahmen. Ultraschall. Gespräche. Untersuchungen. Nochmal Gespräche. Wundersorgung.

Das Baby in der Trage.

Zwischen den einzelnen Terminen Katheterisieren im Rolli in der winzig kleinen Toilette.

Sie sprechen von schlechten Werten. Von auffälligen Befunden. Von einem unaufhaltsamen schlechter werden. Sie betonen die Notwendigkeit des palliativ teams in seiner Versorgung.

Palliativ. Keine Heilung. Nur Linderung.

Ich weiß das. Aber hier höre ich das heute geballt. Hier sehe ich die Verschlechterung seit dem letzten Mal selbst auf dem Monitor des Ultraschall Gerätes. Ich sehe die besorgten Gesichter der Ärzte, die meinen Sohn von Anfang an betreuen. Dabei sind wir gerade in einer vergleichsweise stabilen Phase.

Bin ich zu unrealistisch? Oder sie zu pessimistisch? Sollten wir uns irgendwo in der Mitte treffen?

Sie malen Kurven seines Krankheitsverlauf. Immer wieder ging es steil Berg ab- und immer wieder ein kleines Stückchen aufwärts. Wird es beim nächsten Berg ab nochmal ein aufwärts geben? Wann kommt das nächste Berg ab? Und was hält es bereit? Leber? Lunge? Etwas völlig unerwartetes? Und wo stehen wir auf dieser Kurve? Wieviel Zeit bleibt uns noch mit unserem wunderbaren Sohn?

Es gibt keine Antworten. Der Trend ist klar. Zeitliche Prognosen wagt keiner.

Ja, ich weiß das alles. Seit zwei Jahren setzen wir uns mit seinem Sterben auseinander. Wir wissen das. Wir können das zulassen. Aussprechen. Wir trauern. Wir genießen jeden Tag. Wir feiern. Wir singen. Wir beten und wir weinen. Wir schaffen Erinnerungen. Wir lieben. Und wir leben. Und heute trifft es mich wieder neu sehr hart.

Nun halte ich seine kleine schwitzige Hand. Er schläft. Ich höre seinen Atem. Spüre seinen Herzschlag. Das tut so gut.

Ich bete zu dem Gott, an den ich glaube. Ohne Worte, die fehlen mir heute.

Letztlich Danke ich ihm, dass ich seine Mama sein darf. Die Mama eines wundervollen jungen. Die eines besonderen Jungen. Die eines Kämpferherzens.


Sommer

Es ist heiß. Es ist Sommer. Alle Kinder sind draußen. Im Freibad. Am See. Im Pool. Mit Wasserbomben im Garten. Alle Kinder essen Eis. Und Melone.

Seine Kraft reicht nicht. Er schläft noch mehr als sonst. Die Hitze ist für seinen kranken Körper extrem anstrengend. Ins Wasser darf er auf Grund des Hickman-Katheters nicht. Das Infektions Risiko ist viel zu hoch. Seine Kraft würde auch nicht reichen zum Schwimmen. Toben und planschen.

Er isst kein Eis und keine Melone. Er isst gar nichts. Er kann nicht essen.

Traurig. Ja für mich fühlt sich das oft traurig an. Aber er ist es nicht.

Nicht traurig.

Ganz im Gegenteil. Er nimmt es wie es ist und macht das beste daraus. Aus seinem Zimmer tönen fröhliche Lieder, er singt und kichert. Wenn seine Kraft reicht, sitzt er auf seinem Balkon und spritzt mit einer wasserspritze alle Nachbarskinder im Garten nass. Alle lachen mit ihm, lassen sich auf seine Spiel Ideen ein. ein fröhliches treiben unter seinem Balkon.

Er lacht am lautesten. Er jubelt. Er macht jede Menge Seifenblasen.

Bis seine Kraft erschöpft ist und er zurück ins Bett möchte. Bis er wieder schläft, während alle Kinder draußen fröhlich weiter spielen, spritzen und planschen.

heute haben wir die Schmerzen gut im Griff, er hat nicht gekrampft und nicht gespuckt. Abends sagt er mir, was das für ein schöner Tag war. Ich lerne von ihm, das wesentliche zu sehen. Kleinigkeiten zu schätzen und dem unnötigen nicht zu viel Raum zu lassen. Ich lerne von ihm die Dankbarkeit und das sein im Moment.


Einradfahren

Juniors große Schwestern fahren gerne und mittlerweile gut und viel Einrad.

Heute Abend beim gute Nacht sagen verkündet Junior entschlossen, er weiß schon, was er morgen macht.

Aha, was denn?

Einrad fahren!

Ich muss lachen und frage, ob er denn weiß wie das geht.

Mit seiner grottigen Sprache sagt er Siegessicher "muss Helm anziehen. Muss aufsteigen. Muss losfahren"

Aha. Klar.

Dafür liebe ich ihn so sehr. Er denkt Groß von sich. Er sieht sich nicht als armer, kleiner, kranker, eingeschränkter Junge. In seinem Kopf gehört er einfach dazu. In seinem Kopf kann er all die Dinge die andere Kinder können. In seiner Vorstellung ist er mittendrin.

Immer wieder wird er von der Realität eingeholt. Er merkt dass seine Kraft immer weniger wird. Dass er nicht mitmachen kann, oft alleine ist. isoliert.

Er merkt dass er anders ist.

Manchmal weint er darüber. Doch da bleibt er nicht stehen. Sein Kopf ist voller Ideen. Voller Abenteuer.

Meistens völlig unrealistisch. Aber in seinem Kopf real. Er träumt groß. Selbstmitleid kennt er nicht.

Geht nicht, gibt's nicht. So nimmt sich mein Sohn, dessen Kraft nicht zum Laufen, oft nicht zum Sitzen reicht vor, morgen Einrad zu fahren.

Darin ist er mir ein Vorbild. In allem was er durch macht bleibt er fröhlich.

Und er wollte es unbedingt.

Er war nicht abzuhalten. Er war überzeugt, dass er Einrad fahren kann. Und er hat es gemacht!

Mit dem Rolli zum Einrad. Helm aufziehen. Aufsteigen. Losfahren.

Natürlich kann er auf dem Einrad nicht frei sitzen. Wir müssen ihn gut stützen. Er kippt nach vorne. Er kippt nach hinten. Und zur Seite. Seine Muskeln können den Rumpf nicht gut stabilisieren. Das Einrad bewegt sich ebenfalls. Die Pflegekraft die heute morgen da ist hält meinen Sohn gut fest. Und sie hält das Einrad fest. Und dann schiebt sie ihn.

Er jauchzt. Und jubelt. Er freut sich. Er ruft "Ich kann das!"

Seine Infusionsleitungen verwickeln sich ins Rad. Es dauert einen Moment bis ich diese wieder entwirrt und besser verstaut habe. Dann schiebt sie ihn weiter. Den Weg hoch und runter und wieder zurück. Er strahlt. Er ist stolz. Überzeugt von sich selbst. Er sieht so glücklich aus.

Das ist Lebensqualität. Glück pur.

Er glaubt wirklich dass er Einrad fahren kann. Wir lassen das einfach so stehen. Er lässt sich von den Umständen in denen er lebt nicht einschränken. Er denkt Groß. Und macht einfach. Was er im Kopf hat, setzt er um. Geht nicht? Gibt's nicht!

Nach ein paar Minuten Einrad fahren ist er so erschöpft, dass er ins Bett möchte.

Da ist er immernoch.

Er wird es heute nicht mehr verlassen. Er ist müde und blass. Aber glücklich. Ich streiche über seine weichen Haare, ich halte seine Hand und schaue ihm beim schlafen zu. Er ist super. Dieser kleine Junge lehrt mich so vieles! Was für ein Geschenk, dass er mir anvertraut wurde!

Bin ich ein Glückspilz, seine Mama sein zu dürfen.

Ich sauge den Moment in mir auf. Unser Glück ist so zerbrechlich. Aber heute ganz vollkommen. Ich wünsche mir noch viele solche Einrad-jubel-Momente!